Thüringer Allgemeine, 12.9.1998 Jahresringe im Schacht

Die Imagination eines Ortes und seine Wirklichkeit: Im stillgelegten Schacht von Abteroda findet eine eigenwillige Synthese von Denkmalschutz und Zeitgeist statt.
Der grosse, backsteinummauerte Raum ist erfüllt vom Rauschen eines unsichtbaren Baches, irgendwo tief unten. Aber das ist kein Wasser. Es ist der Wind, der durch den Lüftungsschacht fährt und die einstige «Hängebrücke» der Anlage mit jener schwermütigen Poesie umgibt, die verlassene menschliche Behausungen gelegentlich ausstrahlen. Früher einmal, zwischen 1917 und 1922, fuhren Bergleute an dieser Stelle in den Schacht ein, um das Kalisalz nach oben zu befördern. Später, 20 Jahre nach der Stilllegung, waren es Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, die, vor Fliegerangriffen der Alliierten versteckt, Waffen und Munition herstellen mussten. Anfang April 1945 wurden die Häftlinge evakuiert. Von den Frauen weiss man, dass ihr Ziel das Lager von Ravensbrück war.

Vor zwei Jahren, während eines Kunstsymposiums, hat Corina Bezzola den Raum entdeckt und beschlossen, ihn irgendwann einmal zu erobern. «Das Imaginäre, das er ausstrahlt, mit seiner Realität zu verweben.» Die junge Schweizerin gehört zu den sieben Objektkünstlern, die in diesem Jahr in der stillgelegten Schachtanlage arbeiten und die Ergebnisse ihrer Auseinandersetzung mit dem Ort und dem Thema «Erkundungen» am morgigen «Tag des offenen Denkmals» Besuchern vorstellen werden. Zweifellos wird Abteroda zu den sehr eigenwilligen Begegnungen mit dem Thema Denkmal gehören. Nicht die Präsentation geleckter, mit viel Liebe zum historischen Detail konservierter architektonischer Vergangenheit wird es sein, sondern vor allem eine Herausforderung an Assoziation und geistige Auseinandersetzung. Im Industriedenkmal wurde vor zwei Jahren lediglich der Maschinenraum rekonstruiert, mit der eigens für Abteroda hergestellten imponierenden Fördermaschine. Ansonsten hinterliess die Zeit untrügliche Spuren im verwaisten Gemäuer, lautlos und ein wenig an Jahresringe erinnernd: der abgewetzte Stuhl des Maschinenführers, auf dem einst elitär der wichtige Verbindungsmann zwischen den Kumpeln im Schacht und der Aussenwelt trohnte; Zerbrochene Scheiben der hohen Fenster; die Schienen aus der Zeit des Arbeitslagers der Nazis.

«Ein idealer Ort für das künstlerische Experiment», befand Frank Kley. «Für Besinnung und Arbeit jenseits kommerziellen Kunstinteresses». Gemeinsam mit anderen ortsansässigen Künstlern des Vereins «Phönix F» mietete der Bildhauer aus Kirstinghof 1995 die Anlage von der GVV (Gesellschaft zur Verwahrung und Verwertung stillgelegter Bergwerke). Seitdem entstanden in jedem Sommer neue Installationen. Manche von ihnen haben, frischen Jahresringen gleich, nun ihrerseits Spuren gelegt und fügen sich in die neuen Arbeiten ein.

So wie die an die nackten Wände der «Hängebrücke» geworfenen dokumentarischen Fragmente aus der Zeit des Arbeitslagers, die zur Installation der Kaltennordheimer Künstlerin Gudrun Dittmar im vergangenen Jahr gehörten. Nun interpretieren sie auf beklemmende Weise die Arbeit von Corina Bezzola. Die Schweizerin setzt in ihrer Arbeit auf die Wirkung von Paradoxa. Eine Megaphonstimme vermittelt die triste Stimmung von Akkordarbeit. Die Assoziation ist genauso gewollt wie die Überraschung beim Verstehen: Es ist das italienische Märchen von der Katzenkolonie, das von der Stimme vorgelesen wird. Auf grossformatigen Farbfotografien halten Erwachsenenhände einen bunten Kinderball wie einen Fremdkörper. In einer Tabuzone liegt das Requisit früherer Kindheitstage ganz reell, aber unerreichbar hinter einer Drahtabsperrung. Corina Bezzola hat einen meditativen Raum geschaffen, in dem die diffuse Sehnsucht nach der eigenen frühen Vergangenheit auf das Wissen um die Geschichte dieses Ortes trifft. Parallelen, die eigentlich keine sind, schneiden sich hier.

Im Nebenraum hat sich der Benshausener Künstler Manfred May mit sehr sparsamen Mitteln ebenfalls den Zeitläufen verschrieben: In Anordnung der leeren Fenstergitter hat er die fehlenden Glasscheiben auf dem Boden ausgelegt. Im makellosen Glas spiegeln sich das verwitterte Mosaik vergangener Jahre. Überhaupt scheint der anstehende Jahrtausendwechsel besonders zu inspirieren. Im Gelände hinter der Anlage erinnert eine Installation von Frank Kley an einen verlassenen Kinderspielplatz. Das Riesenrad, Symbol für die immer wiederkehrenden Situationen im menschlichen Leben, ist mit einem zeltartigen Bau verbunden, dem Skelett eines der babelschen Türme, die der Zeitgeist zu erreichen diktiert. Die Installationen entstanden bereits im vergangenen Jahr. Neu sind die Stoffteile, die an einer Leine aufgereiht im Wind flattern. Frank Kley hat sie mit Prophezeiungen des Johannes von Jerusalem zum ausgehenden Millennium beschriftet. Beklemmend nah kommen manche der jahrhundertealten Weissagungen der Realität.

Es kann passieren, um bei Prophezeiungen zu bleiben, dass die diesjährige originelle Verquickung von Denkmal und Zeitgeist im Schacht von Abteroda die letzte sein wird. Die GVV zeigt, gelinde gesagt, nur wenig Ambitionen zur Verlängerung des Mietvertrages mit «Phönix F». Die nötigen Instandhaltungsarbeiten kosten Geld, und in diesem Sommer ging beim Thürigner Landesamt für Denkmalpflege ein Abrissantrag für die Schachtanlage ein. «Natürlich haben wir den Antrag abgeschmettert», erklärt Oberkonservator Dr. Gerd Henninger. Die Anlage sei ein technisches Denkmal von überregionaler Bedeutung und er sähe einem Wiederspruchsverfahren der GVV gelassen entgegen. «Es wäre doch fatal, ein Denkmal abzureissen, in dem erst zwei Jahre zuvor der Denkmalpreis der Länder Hessen und Thüringen übergeben wurde!»

«Wenn das Jahrtausend beginnt, das nach dem Jahrtausend kommt, wird jedes Ding seinen Preis haben, nichts wird mehr wahrlich geschenkt sein», heisst es in einer der Prophezeihungen des Johannes. Warum sollte ausgerechnet ein Ort wie dieser den Zeitläufen entgehen? Auch eine Realität.

Elena Rauch

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